Ein Jurist kann die Wand nicht streichen


Bernd Ehinger wirbt für die berufliche Ausbildung
Laut einer Umfrage findet jeder dritte Betrieb in Deutschland nicht genügend Auszubildende. Das alarmiert auch den Präsidenten der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main, Bernd Ehinger. Im Gespräch mit Brigitte Degelmann fordert er ein Umdenken: Die berufliche Ausbildung müsse denselben Respekt genießen wie die akademische.




Herr Ehinger, das Bundesbildungsministerium will die berufliche Bildung in diesem Jahr mit rund 604 Millionen Euro fördern. Trotzdem bereitet Ihnen das Thema Ausbildung Sorgen. Warum?

BERND EHINGER: Wir sind heute in der Situation, dass mehr als 60 Prozent der Schüler Abitur machen. Zu meiner Zeit waren es etwa 15 Prozent. Damals war vollkommen klar, dass diese 15 Prozent
dann studieren. Und das ist in den Köpfen der Eltern und Großeltern heute immer noch so drin: Das Kind hat Abitur gemacht, es muss jetzt studieren.

Und das ist ein Problem?
EHINGER: Ja, wir brauchen genauso Absolventen der beruflichen Bildung, weil die Technik voranschreitet und Menschen gefragt sind, die diese Technik auch einbauen, warten und instand setzen können.
Stattdessen fehlt es an Fachkräften und inzwischen auch an Auszubildenden.

Laut einer Befragung, die der Deutsche Industrie- und Handelskammertag vor zwei Jahren durchführte, findet jeder dritte Betrieb in Deutschland nicht genügend Lehrlinge.

EHINGER: So ist es auch in unserem Kammer-Bezirk. Vor 15 Jahren war die wirtschaftliche Situation anders, da sind wir zu den Betrieben gefahren und haben darum gebettelt, dass sie noch Auszubildende
aufnehmen. Jetzt hat sich das umgekehrt. Die Arbeitsagentur kann niemanden mehr vermitteln, der Markt ist leer.

Wie reagieren die Unternehmen darauf?

EHINGER: Wir haben momentan die Situation, dass viele Betriebe sagen: "Wir haben drei Ausbildungsplätze, aber wir nehmen auch vier oder fünf Lehrlinge auf, wenn wir sie bekommen können. Von denen
bleiben dann hoffentlich zwei oder drei’. Übrigens gibt es in unserem Kammer-Bezirk inzwischen auch über 1000 Flüchtlinge, die einen Ausbildungsvertrag haben. Da macht das Handwerk eine ganze Menge.

Obwohl viele Unternehmen händeringend nach Auszubildenden suchen, gibt es andererseits auch Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz finden. Wie passt das zusammen?

EHINGER: Eigentlich gar nicht. Wir sind mit der Arbeitsagentur in Frankfurt immer im Gespräch. Wenn die vielleicht 100 junge Leute haben, die einen Ausbildungsplatz suchen, und man sagt, gebt uns die Adressen, wir schreiben sie an, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und sie zu motivieren – da ist die Bereitschaft sehr überschaubar. Wir haben das mal gemacht.

Mit welchem Ergebnis?

EHINGER: Es hat sich kein einziger gemeldet.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisiert, dass viele Firmen bei der Suche nach Auszubildenden nur nach Abiturienten oder Realschülern Ausschau halten würden. Hauptschüler würden viel zu wenig berücksichtigt.

EHINGER: Dass ein Betrieb versucht, jemanden mit guten schulischen Voraussetzungen zu finden, das ist ganz normal. Aber auch da sage ich zu den Gewerkschaften: ,Schickt mir diejenigen, die keinen
Ausbildungsplatz finden – wir kriegen die unter.’ Doch da kommt nichts. Das ist so eine pauschale Aussage. Wenn ich keinen Abiturienten finde und auch keinen Realschüler, dann nehme ich als Betrieb eben einen von der Hauptschule, wenn das möglich ist. Oder vielleicht sogar jemanden, der die zehnte Klasse nicht geschafft hat. Das Handwerk bietet verschiedene Perspektiven für alle, die sich engagieren wollen: vom Abiturienten über den Studienabbrecher bis zum Hauptschüler.

Sie betonen immer wieder, dass die berufliche Ausbildung dieselbe Anerkennung genießen müsse wie die akademische.

EHINGER: Wenn Sie einen Maler haben, dann ist der doch für die Gesellschaft genauso wichtig wie jemand mit einer akademischen Ausbildung. Ein Jurist kann mir die Wand nicht streichen. Sie wollen morgens früh ein frisches Brötchen oder frische Wurst essen oder was auch immer. Dann brauchen Sie auch Leute, die das können und machen. Notwendig ist beides: akademische und berufliche Ausbildung. Und zwar auf derselben Ebene.

Dieser Respekt fehlt Ihnen bislang?

EHINGER: Nehmen Sie eine Familie mit zwei Kindern. Wenn das eine Kind Jura studiert, dann wird das in der ganzen Verwandtschaft erzählt. Wenn das zweite Kind aber eine Malerlehre macht, dann wird das nicht erzählt. Dabei brauchen wir diese Leute genauso.

Im Ausland genießt das System der Berufsbildung, wie sie in Deutschland gehandhabt wird, großen Respekt.

EHINGER: Die spanische Bildungsministerin sagte zu mir: ,Ihr habt da einen unheimlich großen Vorteil – Ihr habt den Meister, der in der Breite und in der Tiefe der Technik stark eingebunden ist. Wenn eine neue Technik kommt, könnt Ihr schneller reagieren. So seid Ihr Deutschen uns immer ein bis zwei Jahre voraus.’ Das ist auch ein Grund für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands. Wir müssen aufpassen, dass uns das nicht verloren geht. Die Wissenschaft kann noch so viele Dinge entwickeln, aber es muss auch jemanden geben, der das einbaut.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen, wie sich der unterschiedliche Stellenwert von akademischer und beruflicher Bildung zeigt?

EHINGER: Wenn Sie den Campus der Goethe-Universität sehen, da macht es einfach Spaß, zu studieren. Aber dann gucken Sie sich den schlechten Zustand mancher Berufsschulen hier an, da merken Sie einen krassen Unterschied.

Weil die Berufsschulen über Jahre hinweg stiefmütterlich behandelt wurden?

EHINGER: So ist es. Ich war vor 14 Tagen in der Philipp-Holzmann-Schule, direkt am Uni-Campus. Da gucken Sie aus dem Fenster und sehen, dass ringsum alles neu gebaut ist. Und mittendrin steht da eine
Berufsschule, die in einem ganz schwierigen Zustand ist. Das kann’s nicht sein. Den jungen Leuten muss es doch auch Spaß machen, in ihre Schule zu kommen. Sie müssen darauf stolz sein können. Das hängt alles miteinander zusammen. Auch die Berufsschulen brauchen eine Ausstattung, die der heutigen Zeit entspricht. Wir thematisieren das aktuell sehr stark bei der Politik auf allen Ebenen.

Was macht die Handwerkskammer selbst, um für die berufliche Bildung zu werben?

EHINGER: Pro Jahr kommen rund 3000 Schüler zwischen der siebten und neunten Klasse in unsere Berufsbildungs- und Technologiezentren. Dort können sie drei Berufe näher kennenlernen und auch mal handwerkliches Arbeiten ausprobieren. Das ist eigentlich ganz erfolgreich. Da können sie zum Beispiel eine Brezel selbst formen, backen und mit nach Hause nehmen. Für einen Siebt- oder Achtklässlerist das ein Riesenerlebnis. Darüber hinaus werben und erklären wir mit verschiedenen Kommunikationsmaßnahmen, welche Karriereperspektiven das Handwerk bietet – regional, aber auch bundesweit. Zum Beispiel mit der neuen Kampagne „Ist das noch Handwerk?“ in sozialen Netzwerken oder plakatiert im öffentlichen Raum. Wir müssen sagen, dass das Handwerk auch dort drin ist, wo man es vielleicht nicht erwartet, dass wir innovativ und zukunftsweisend sind. Viele Leute wissen das nicht.

Das ist aber nicht alles.

EHINGER: Wir haben außerdem Kooperationen mit mehr als 50 Schulen in unserem Kammerbezirk. Da machen wir Beratungen und gehen auch zu Elternabenden hin. Mit manchen Schulen klappt das hervorragend. Bei vielen Lehrern merken wir aber, dass für sie das Thema Handwerk und berufliche Bildung ziemlich weit weg ist. Die haben oft nie einen Betrieb von innen gesehen.

Das heißt, dass man eigentlich auch Lehrer entsprechend schulen müsste?

EHINGER: Das war schon unser Vorstoß, und im Kultusministerium ist dieser Gedanke auch da, dass jeder Lehrer in regelmäßigen Abständen mal in einen Betrieb soll. Aber das ist natürlich nicht ganz einfach
umzusetzen.

Auch im Hinblick auf die Schüler könnte noch einiges gemacht werden.

EHINGER: Die Wirtschaft muss während der Schulzeit den jungen Leuten eine Chance geben, ein Praktikum zu machen. Die müssen berufliche Ausbildung kennenlernen, anfassen können, um herauszufinden,
ob das etwas für sie ist. Es nützt uns nichts, wenn wir irgendwelche Hochglanz-Broschüren machen, und die Leute sind nachher total enttäuscht – was ja bei der akademischen Ausbildung oft genug
passiert.

Sie spielen darauf an, dass in Deutschland fast jeder dritte Student die Hochschule ohne Abschluss verlässt?

EHINGER: Ja. Diese „Studien-Zweifler“, wie wir sie nennen, haben wir übrigens bei unserem Projekt „YourPush“ im Fokus, das wir zusammen mit der Goethe-Universität seit eineinhalb Jahren durchführen. Da beraten wir diejenigen, die nach Alternativen zum Studium suchen.

Um ihnen neue Perspektiven im Handwerk zu eröffnen?

EHINGER: Genau. Das ist durchaus erfolgreich. In den vergangenen Jahren sind daraus immerhin 63 neue Ausbildungsverträge entstanden, in der neuen Periode seit Oktober sind es bereits 13. Das sind alles keine Riesen-Zahlen, aber man merkt schon, dass der eine oder andere in einer beruflichen Ausbildung besser aufgehoben ist. Und genau diese Leute brauchen wir.


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Seit 2005 ist Bernd Ehinger (74) Präsident der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main. Außerdem steht der Elektroinstallateur-Meister, der seit 1970 in dritter Generation eine Firma mit rund 150 Mitarbeitern im Westend führt, an der Spitze des Hessischen Handwerkstages (HHT). Damit vertritt er hessenweit rund 75 000 mittelständische Betriebe mit etwa 340 000 Beschäftigten. Ehinger war Mitbegründer der Eintracht
Frankfurt Fußball AG und ist Vorsitzender des Beirats sowie im Vorstand der Freunde der Eintracht AG. Darüber hinaus übt er zahlreiche weitere Funktionen aus, unter anderem in mehreren Aufsichts- und Beiräten sowie im Landesvorstand der CDU. Für sein Engagement erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem das Bundesverdienstkreuz und den hessischen Verdienstorden. Ehinger ist verheiratet und hat zwei Kinder, zwei Enkel und einen Urenkel.